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Griechische Fahrten und Wanderungen – Reiseeindrücke und Erlebnisse von Friedrich Seiler

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2020-05-12 2020-05-12 12.05.2020

1904 erschienen in Leipzig im Verlag Fr. Wilh. Grunow die Reiseerlebnisse von Friedrich Seiler in Buchform. Der Philologe Friedrich Seiler war geheimer Studienrat und Studiendirektor i.R. und lebte von 1851-1927. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er Teilnehmer an den Bildungsreisen, die der Archäologe Wilhelm Dörpfeld (1853-1940) für Archäologen, Philologen und sonstige Interessierte in Griechenland durchführte. An diesen Reisen nahm Dörpfeld selbst als Reiseleiter teil und besuchte mit seiner Reisegruppe zahlreiche Stätten von archäologischem Interesse, z.B. Mykene, Tiryns, Epidaurus und Olympia, aber auch Inseln wie Euböa, Mykonos, Santorin, Kreta und Milos.
Einige der Reiseerlebnisse von Friedrich Seiler stelle ich hier vor. Wer die Möglichkeit hat, sein Buch zu lesen, wird es sicher nicht bereuen.

Kaum in Griechenland angekommen, macht Friedrich Seiler den Versuch, Ansichtspostkarten in seine Heimat zu schicken:

… mit den Ansichtspostkarten ist oder war es damals in Griechenland überhaupt eine eigne Sache. Es war nämlich eben ein Gesetz in Kraft getreten, wonach eine Postkarte nur dann Giltigkeit hat, wenn die Marke eingeprägt, nicht, wenn sie aufgeklebt ist. Damit waren alle durch Privatindustrie bis dahin hergestellten Ansichtspostkarten mit einem Schlage wertlos geworden, was übrigens einen Händler nicht hinderte, mir am ersten Tag meiner Anwesenheit, als ich meine glückliche Ankunft nach Hause melden wollte, noch ruhig einige aufzuhängen. Erst auf der Post erfuhr ich, daß diese Karten nicht befördert würden.

Für die Reisegruppe gab es eine genaue Anweisung, was an Kleidung und Verpflegung mitzubringen war:

Am frühen Morgen des 10. April versammelten wir uns, etwa vierzig Personen, auf dem Bahnhofe zu Athen, um unter Dörpfelds Leitung die Peloponnesreise anzutreten. In dem Reiseprogramm, das jeder Teilnehmer in die Hand bekommen hatte, stand zu lesen:
„Das Reisegepäck muß möglichst gering sein. Außer der nötigen Wäsche hat jeder einen Überzieher, eine Reisedecke, ein zweites Beinkleid und ein Handtuch mitzunehmen. Es ist ratsam, sich auch mit einem zweiten Paar Schuhe und einem Regenschirm zu versehen. Ein Trinkgefäß und ein Eßbesteck muß jeder bei sich haben. Für den Ritt durch Messenien und Arkadien hat sich jeder Teilnehmer mit Konserven für etwa vier Mahlzeiten zu versehen“.

Der Umgang mit der einheimischen Bevölkerung war nicht immer ohne Probleme:

In der Stadt Argos bestiegen wir wieder die Bahn. Hier hatte Dörpfeld beim Ablohnen der Kutscher die Gelegenheit, seine volle Energie gegen Ausbeutungsversuche zu beweisen. Mit diesen Leuten war das Fahrgeld vorher ausgemacht worden, aber sie verlangten unter faulen Vorwänden jetzt mehr, als ihnen zukam. Da er nicht einwilligte, so umdrängte ihn die ganze Schar argivischer Rosselenker, die Peitschen in der Hand, unter furchtbarem Geschrei und Gestikulieren. Er aber stand in seinem brauenen Lodenmantel wie ein nordischer Fels unter diesem südlichen Wogenandrang, scheuchte die heranquellende Volksmenge durch ein: „inne panigyris?“ (ist hier eine Volksversammlung?) zurück und entriß plötzlich dem Obmann der Kutscher mit einem raschen Griff das ihm schon ausgehändigte Bündel Drachmenscheine mit den Worten: „Ihr bekommt das Geld nicht eher wieder, als bis ihr euch besonnen habt.“ Damit stieg er zu uns in den Waggon, und es dauerte nicht lange, so erschien, nachdem die Kutscher noch eine Weile räsoniert und unter sich verhandelt hatten, ihr Sprecher und bat höflich um das Geld, er wolle nun artig sein.

Die Reiseteilnehmer hatten manchesmal genug von den Museumsbesuchen und machten sich stattdessen lieber daran, sich dem modernen griechischen Leben zu widmen:

Als wir endlich wieder alle an Bord waren, ging unser Schiff nach dem nahen Mykonos in See. Hier erwartete uns schon seit Sonnenaufgang der Professor der Geographie, Dr. Philippson aus Berlin, mit heißer Sehnsucht. Nach dem ursprünglichen Plane hätten wir nämlich schon am Morgen des Tages in Mykonos eintreffen müssen, das schlechte Wetter hatte alles umgestoßen, und Herr Philippson hatte sich in dem kleinen Nest „elend geödet“. Nun fuhr er mit einem gemieteten Boot an unser Schiff heran und lud uns ein, gleich einzusteigen. Dann führte er uns bei rasch wachsender Dämmerung – es war schon gegen sieben Uhr – in den Ort, um uns, wie er sagte, die Geheimnisse von Mykonos zu zeigen. Diese bestehen erstens in 360 Kirchen; genau so viel, nicht mehr und nicht weniger, zählt die kleine Insel. Sie liegen wie Winzerhäuschen oder kleine weiße Mühlen in den Feldern und Weinbergen zerstreut. Sodann in dem unglaublichen Gewirr und Gewinkel der Gassen, die häufig so schmal sind, daß man mit ausgespannten Armen an die Häuser stößt. Diese sind alle weiß, die Dächer flach, und geländerlose Steintreppen führen direkt von der Straße an den Außenwänden hinauf zu den obern Stockwerken. Leider gab es hier in Mykonos sogar zwei Museen zu besichtigen. Ich hoffte, die Dunkelheit würde uns diese Arbeit, wenigstens für den Abend, ersparen. Aber es half nichts. Der Epistates brachte die Schlüssel; Streichhölzer und Lichter wurden hervorgeholt und ohne Gnade den Göttern und Göttinnen unter die unsterblichen Nasen geleuchtet. Mir wurde das bald langweilig. Ich hatte an diesem Tage schon genug und übergenug Antikes und Totes gesehen und strebte nun entschieden nach etwas Modernem und Lebendem.
Die Mykonierinnen sind nämlich von alters her wegen ihrer Schönheit berühmt, sie gelten durch schlanken Wuchs und Reinheit der Rasse als die schönsten der Inselgriechinnen, und das will etwas sagen. Denn schon in Hermupolis hatten wir prachtvolle weibliche Erscheinungen zu bewundern Gelegenheit gehabt. Die Frauen und die Jungfrauen von Mykonos ergingen sich nun zur Feierabendzeit am Meeresufer. Sie zu sehen, verließ ich schnöde die Grabstelen, Vasentrümmer, Löwenköpfe und Reliefs der Sammlungen. Als ich ins Freie kam, sah ich, daß auch andre von demselben Verlangen getrieben worden waren. Alles, was nicht bloß Archäologe sondern auch noch ein wenig Neologe und Parthenologe war, war schon draußen oder kam noch heraus an den Strand, und nur die eingefleischtesten Stein- und Kunstfexe blieben bis zuletzt in den dumpfen, niedrigen Räumen der Museen. Auch unsere Damen trieb die Neugier, ihre vielgerühmten Konkurrentinnen in der Schönheit kennen zu lernen. In der Tat, das Schauspiel war sehenswert. Zu zweien oder dreien gingen die prachtvollen Gestalten mit den stolzen Köpfen und dem mächtigen schwarzen Haarwuchs, der durch keinerlei Hüte oder Hauben verdeckt war, langsam auf dem Quai hin und her. Sie beobachteten dabei die allergrößte Zurückhaltung und Sittsamkeit, und nur ihre sonnenhaft leuchtenden, großen Augen schweiften mit einem leichten Anflug von Neugier zu den europäischen Männern und mehr noch zu den Damen hinüber.

Auf Santorin wurden die Schiffsreisenden schon vor 120 Jahren auf Maultieren und Eseln in den rund 300 Meter höher gelegenen Ort Fira befördert. Doch dies ging nicht immer ohne Zwischenfälle ab ...

Auf dem schmalen untern Strande hielten schon die vorher telegraphisch bestellten Reittiere nebst ihren Führern. Kaum berührte unser erstes Boot das Ufer, so drängte sich die ganze Schar mit betäubendem Geschrei heran, um bei dem zu hoffenden Gewinn nicht leer auszugehn. Dörpfeld hatte vorher gesagt, daß sich die schweren Herren schwere Tiere aussuchen sollten, aber daran war bei dem Gedränge stampfender, schreiender, gestikulierender Menschen nicht zu denken. Jeder mußte froh sein, wenn er im Sattel eines Mulári (Maultier) oder Gaiduri (Esel) saß, ohne vorher auf die Hühneraugen getreten worden zu sein. […] Bei diesem Ritte konnte einem allerdings leicht schwindlig werden. […] Doch konnten wir uns auf die sichere Gewöhnung unsrer Maultiere und Esel verlassen.
Leider haben diese Geschöpfe die widerwärtige Neigung, immer möglichst dicht am Rande des Abgrunds hinzugehn, gerade als wollten sie zeigen, daß sie schwindelfest sind. So bemühte sich auch mein Genosse vergeblich, seinen Esel nach links auf die sichre Seite des Weges zu ziehn, er blieb hartnäckig an der gefährlichen rechten Seite, und meiner trat genau in seine Fußtapfen. An einer der schlimmsten Stellen fiel es diesem aber plötzlich ein, loszutraben und seinen Bruder in die linke Flanke zu rennen, wobei er einen Ton ausstieß, worin sich Hohn und Schadenfreude mischten. Ob das wirklich ein kainitisches Gelüstchen war oder bloß ein schlechter Witz zur Erhöhung des Vergnügens der beiden Reiter, wer wollte das ergründen? Wer könnte ermessen, wie es in den Tiefen einer Eselseele aussieht? Wir beide bekamen doch einen nicht geringen Schreck, stiegen ab, und es begann eine ziemlich erregte Auseinandersetzung, da mein Nebenreiter von mir Garantien für ferneres Besserverhalten meines Esels verlangte, die ich natürlich bei völliger Unkenntnis seiner Gemütsart nicht zu geben vermochte. Wir bedachten in unserer Aufregung nicht, daß wir den schmalen Weg versperrten, und so geschah uns ganz recht, daß wir plötzlich hinter uns eine zwar verhaltne aber doch vernehmliche Jungedamenstimme hörten:
„Weshalb halten eigentlich die beiden alten Esel da vorn?“

Auf Kreta hatte die Reisegruppe das Glück, von dem englischen Archäologen Arthur Evans durch den von ihm zu jener Zeit ausgegrabenen Palast von Knossos geführt zu werden. Anschließend wurde die Gruppe in das Wohnhaus von Evans eingeladen und bewirtet:

Wir überschritten also auf einer kunstlosen Holzbrücke einen tiefeingerissenen Bach und betraten dann ein kretisches Bauernhaus, jetziges Eigentum und Kampagneheim des Herrn Evans. Auf der Terrasse standen wahre Batterien von Limonadenflaschen, und in der durchaus städtisch möblierten Wohnstube erwartete uns ein richtiger fife-o’clock-tea. Blechkästen mit englischen Cakes, feinste Orangemarmeladen, mächtige Apfelsinenberge erquickten zunächst das Auge, dann auch den Gaumen der Besucher.

Auf Milos führt Dörpfeld die Reisegruppe zur antiken Stadt Melos und dem nahegelegenen Fundort der Venus von Milos:

In unmittelbarer Nähe des antiken Melos traf im Jahre 1820 ein Bauer beim Durchhacken seines Ackers auf die hochberühmte Venus von Milo, die jetzt eine der Hauptzierden des Louvre bildet. Dörpfeld zeigte uns die Stelle hart an der Stadtmauer, und mit Andacht traten wir einer nach dem andern auf diesen kunstgeschichtlich so bedeutsamen Fleck Erde. Auch eine schöne archaische Jünglingsstatue ist dort etwas weiter abwärts gefunden worden. […]
Den Rückmarsch machten wir auf einem andern Wege durch eine Talschlucht, die rechtsum biegend plötzlich den Ausblick auf das Meer und die weißen Häuser von Adamas eröffnete. Hier drehten mühselig arbeitende Maultiere, die Augen durch Scheuklappen geschützt, knarrende Schöpfräder, die das aufgesammelte Regenwassser aus tiefgemauerten Zisternen hinaufhoben, damit die dünnbewachsenen, steinbesäten Getreidefelder getränkt würden. Das Meer glänzte so kristallen durchsichtig, daß drei von uns nach ein Bad zu nehmen beschlossen. Wir gingen den Strand entlang, bis wir auf einige Felsgrotten mit hölzernen Türen trafen. Da wir in diesen einige Nägel eingeschlagen fanden, so hängten wir unsre Kleider daran und stiegen dann, die Leiber verklärt vom goldnen Abendschein, ins Wasser. Ich warnte meine Badekameraden nachdrücklich, den Felsboden zu betreten, wo die heimtückischen Seeigel darauf lauern, ihre Stacheln in die zarten Fußhäute mitteleuropäischer Kulturmenschen zu bohren. Wir blieben also auf dem Sandboden oder schwammen, gleich Delphinen, jauchzend in der lauen, durchsichtigen Bläue. Als wir zu unsern Kleidergrotten zurückkehrten, fanden wir auf den Felsen eine ganze Schar Knaben und Mädchen, die mit ehrfürchtiger Scheu und tiefem Schweigen von oben herab zusahen, wie sich die fremden Herren wieder anzogen.